Ich rollte leicht meine Augen. Der Kerl war eindeutig zu lange alleine gewesen. Als er mich beruehrte, sah ich ihn fragend an und bemerkte dann wie er meine Bisswunde musterte. "Vielleicht ein Schal. Aber ganz ehrlich, steht mir auch nicht.", grinste ich achselzuckend. Es kam mir ja eh niemand sehr nah, dass er meine Wunde erkennen konnte. Und ich wusste auch nicht, was ich die naechsten Tage jetzt eigentlich vor hatte. Wenn ich wieder aus der Kolonie trete, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich Xavier ueber den Weg laufen wuerde. Aber hier in der Huette rumsitzen konnte ich auch nicht. Und eigentlich war mir schon bewusst, dass ich Xavier so oder so wieder aufsuchen wuerde.

Ich sah sie lächelnd an. Seufzend zog ich meinen Hut aus und wedelte grübelnd damit herum. Dann stockte ich. "Und ein Hut steht dir auch nicht?" Als ich ihren nachdenklichen, sogar leicht betrübten Gesichtsausdruck sah blickte ich sie mit schief gelegtem Kopf an. Woran dachte sie? Ich konnte keine Gedanken lesen und setzte den Hut wieder auf. Wenn dieser Xavier wirklich ihr bester Freund war - würde sie sicher nochmal zu ihm gehen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte hätte ich es ihr verboten. Aber das konnte ich nicht. Erstens war ich niemand, der ihr etwas verbieten konnte, und zweitens war sie sowieso zu stur. Das einzige was ich tun konnte war mitgehen und auf sie aufpassen.

"Hm. Sag dus mir.", sagte ich, nahm ihm den Hut ab und setzte ihn auf meinen Kopf. "Steht er mir?", fragte ich laechelnd. Wahrscheinlich sah ich total komisch mit seinem Hut aus. Jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, diesen staendig zu tragen. Dann richtete ich mich leicht auf und tat so als haette ich zwei Pistolen zur Hand. Ich stand auf und sagte dann mit tiefer Stimme "Ich bin Alex, der Held der Viralgeschichte!" Eigentlich wollte ich noch weiter so tun, als waer ich Alex, aber dann musste ich lachen und lies mich aufs Sofa fallen, wobei mir der Hut vom Kopf flog. "Man. Ganz schoen anstrengend Alex zu sein.", grinste ich und legte mich hin.

Ich musste mir ein Lachen wirklich verkneifen. Als ihr der Hut herunterflog fing ich ihn auf und setzte ihn wieder an seinen alten Platz auf meinen Kopf. "Er ist dir ein wenig zu groß, aber stehen würde dir bestimmt einer", meinte ich breit grinsend und sah sie schief lächelnd an. Ja, ich zu sein war anstrengend. Besonders wenn man eine Ava hatte, die mit einem Viral befreundet war. Inzwischen war ich mir sicher dass Tian draußen wartete. Oder sich etwas zu Essen holte. Zumindest hatte er sich seit einiger Zeit nicht mehr gemeldet. Ich setzte mich neben sie auf das Sofa und sah nach vorn. "Ich könnte dir sicher einen passenden kaufen", meinte ich nachdenklich und lächelte leicht. "Zusätzlich zum Essen"

Ich lachte laut, sogar etwas zu laut auf. "So Partnerlook-like. Oder wie?", grinste ich, drehte mich auf dem Sofa falsch herum, sodass ich meine Beine auf die Lehne legen konnte und mein Kopf auf dem Sitzpolster ablegen konnte. "Man man, dir muss der Hut ja richtig ans Herz gewachsen zu sein.", sagte ich und sah zu ihm auf. "Weißt du was? Ich find du solltest deine Augen vielleicht mehr betonen. So ne Brille oder so. Nein warte, passend zu deinem Look waer noch ne Sonnenbrille, dann siehst du richtig Gangstamaessig aus. Vor allem mit dem Hut und deinen schwarzen Klamotten und deinen Knarren.", grinste ich und lies mich etwas zu sehr haengen. Wahrscheinlich lag das an dem Blutverlust, dass ich jetzt etwas gerne Mist redete. "Ah, dann kriegen sicher alle Virale Angst vor dir.", grinste ich weiterhin. Gott, jemand musste mich stoppen vor meinem Geschwaffel.

Ich legte den Kopf schief. "Du wirst es nie schaffen, mein Aussehen zu ändern", versprach ich mir mehr oder weniger selbst und grinste immer noch. "Aber du solltest vielleicht nicht schwarz-braun tragen sondern schwarz-türkis" Ich sah sie fragend an. Eine Sonnenbrille? Nachher hielten mich noch irgendwelche Menschen oder sogar Virals für jemanden, der nur auf's cool sein auswar. Und das war ich nicht. Die Kleidung war dick genug sodass Viralzähne nicht durchkamen. Und mein Hut? Naja, den hatte ich wirklich gern. Der gehörte zu mir wie meine Waffen. Ich sah sie ruhig an. Sie schien irgendwie doch wieder schlapp zu sein. Der Blutverlust machte sich doch bemerkbar. "Ruh dich aus, ich gehe Essen holen, okay?"

"Nur wenn ich einen Kussi krieg!", sagte ich verspielt und zog meine Fueße von der Lehne, setzte mich in Schneidersitz hin und deutete auf meine Wange. "Gib Ava etwas Liebe und sie ist brav.", sagte ich grinsend. Ja, ich sollte mich tatsaechlich ausruhen. Aber neugierig war ich schon, ob er mir den Gefallen machte. Manchmal wuenschte ich mir, ich koennte die Gedanken anderer lesen. Das waere ein riesiger Vorteil. Ploetzlich fragte ich mich, ob wohl Alex oder Xavier mich mehr mochte. Das war wirklich eine oberflaechliche Frage und ich war schon wieder an dem Punkt des Entscheidens angelangt. Okay, schnell denn Kussi und ich geh schlafen. Sonst dreh ich durch...

Diesmal zögerte ich nicht sondern küsste sie kurz auf die Wange. Ihre gute Laune färbte dann doch etwas auf mich ab. Ich stand auf und sah sie ruhig an. "Okay, jetzt bleib aber auch brav" So wie sie gerade drauf war erinnerte sie mich an meine kleine Schwester. Frech und süß. Plötzlich wurde mir siedend heiß. Ich erinnerte mich an meine Schwester. Ich hatte wohl eine... Ich konnte mich nur daran erinnern, wie sie gewesen war. Nicht, was mit ihr passiert war. Ich erstarrte. Erinnerungen. Alte Erinnerungen. Und sie überwältigten mich fast schon. Sie hatte dunkle Haare gehabt wie ich, bis zu den Schulterblättern. Und leuchtend grüne Augen. Und sie hatte immer frech gegrinst. Ich starrte einfach nur ins Leere während mein Hirn die Erinnerungen durchlief.

Mit großen Augen sah ich Alex an und wurde leicht panisch. Was war denn jetzt los? "Alex!?", rief ich aufgebracht und stand in aller Schnelle auf. "A-Alles okay?", meine Angst war mir deutlich an zu hoeren. Mein Herz fing an zu rasen und mir wurde schon wieder warm. Wenn er jetzt auch noch zu einem Viral werden wuerde oder so... Aengstlich nahm ich seine Hand, immernoch unahnend und etwas panisch. Etwas zu panisch. Ich uebertreibte es sogar, aber ich bemerkte es ja nicht, dank meines geschwaechten Immunsystem.

Ava holte mich zurück in die Realität. Ich sah sie erschrocken an. Sie durfte sich nicht so aufregen. Dazu hatte sie zu viel Blut verloren. Ich zwang sie mit sanfter Gewalt zum Hinsetzen und ging vor ihr in die Hocke, während ich ihre Hände noch in meinen hielt. "Alles okay. Es ist nichts. Beruhig dich, aber schlaf nicht ein" Falls sie einschlief konnte es gut sein dass sie nie mehr aufwachte. Und das würde ich jetzt nicht durchstehen. Nicht wenn sie mich an meine Schwester erinnerte. Ich strich ihr kurz abwesend über die Wange. Vom Aussehen her war sie völlig anders, aber irgendwie... Seufzend richtete ich mich wieder auf und ließ ihre Hände los. Ich atmete einmal tief durch und musste meinen Puls beruhigen, der sich seit meinem Erinnerungsschub gesteigert hatte.

Ich musterte ihn mit verrengten Augen, da ich wirklich nichts verstand. Vor allem als er mir ueber die Wange strich. Ich hielt dabei den Atem an, denn irgendwie hatte ich ein merkwuerdiges Gefuehl. "Ich bin aber muede.", widersprach ich mit bruechiger Stimme und blinzelte. "Ich kanns nicht versprechen.", ich lehnte mich muede an die Lehne des Sofas und seufzte leise. Etwas Schlaf war jetzt eigentlich genau perfekt. Keine Gedanken an Xavier, keine Gedanken an diese abgef'uckte Welt. Keine Gedanken an gar nichts. Nur die Dunkelheit und die Abwesenheit meines Geists. Aber wenn Alex es so wollte, wuerde ich mich zusammen reißen...

"Bitte okay? Dann erkläre ich dir nachher auch alles" Ich sah sie fast schon flehend an. Ich hatte mir doch versprochen, dem Schicksal mal richtig in den Hin.tern zu treten. Verdammt. Ich musste mich beeilen. Ich sah kurz nochmal Ava an, dann rannte ich nach draußen und in die Kolonie um irgendwo Essen einzutauschen. Mit ein paar der Münzen ergatterte ich eine deftige Suppe, Brot und Trinkwasser. Das reichte wohl erstmal. Ich rannte zurück und kam schwer atmend durch die Tür. Mann, ich hatte mich echt abgehetzt. Ich sah erstmal zu Ava.

Was wollte er mir denn erklaeren? Als er weg war, lies mich meine Neugier wohl wach bleiben. Es hielt mich aber nicht davon ab mir ein Kissen und eine Decke zu holen. Ich kuschelte mich aufs Sofa und musste laecheln, als ich mich richtig wohl fuehlte. Natuerlich war es gerade so nicht einfach fuer mich wach zu bleiben. Aber so wie er mich gebeten hatte.... Der Kerl ueberrascht mich immer und immer wieder. Ich zuckte leicht zusanmen, als die Tuer aufging und sah sogut es ging auf. Dabei verkniff ich mir ein Lachen. "Was ist denn so wichtig, dass du dich so abhetzt?", fragte ich und gaehnte. So muede war ich seit langem nicht mehr!

Ich lächelte erleichtert. Sie war noch wach. Halb am Einschlafen aber wach. Ich stellte die Kanne mit Wasser, die Kanne mit der Suppe und ein paar Brötchen auf den Couchtisch. "Iss erstmal okay?" Ich musste mir überlegen wie ich es sagte, dass ich mich plötzlich an etwas vor dem Blackout erinnerte. So schlimm war es vielleicht für sie nicht, aber seit ich mich an meine Schwester erinnerte wollte ich wissen was mit ihr passiert war. Inzwischen war mir nur noch warm vom Spurt in die Stadt. Und die Ähnlichkeit von Ava und meiner Schwester schwand. Wie hatte sie eigentlich geheißen? Ich erinnerte mich nicht mehr. Das beruhigte mich dann doch irgendwie. Ich sah Ava von der Seite her mit einem ruhigen, sanften Blick an.

Ich schloss meine Augen und unterdrueckte ein brummen. Aber er hatte sich schließlich die Muehe gemacht. "Nur wenn du auch was isst.", sagte ich mit geschlossenen Augen, halb dabei einzuschlafen. Blinzelnd oeffnete ich sie und setzte mich auf. Ich wartete nicht auf seine Antwort, nahm mir eines der Broetchen und aß zufrieden. Die Suppe war noch warm, davon wuerde ich gleich auch noch was essen. Aber dann war fuer mich eindeutig Feierabend. Ich rieb mir die Augen und sah ihn an. "Und Schlaf brauchst du nachher auch. Keine Widerrede!" Noch immer war ich neugierig, was er mir zu sagen hatte. Aber mein Kopf war zu schwer und ich war zu muede um darueber groß nachzudenken.

Ich sah sie mit schief gelegtem Kopf an. "Na, gut" Ich griff ebenfalls nach einem Brötchen. Die Suppe ließ ich ihr, ich hatte nicht genug für zwei Personen bekommen. Ich trank einen Schluck vom Wasser und biss in das Brötchen. Als ich runtergeschluckt hatte sah ich Ava beim Essen zu und überlegte. "Und was ich dir sagen wollte: Vorhin habe ich mich an etwas erinnert - etwas was vor dem Blackout war. An meine Schwester" Ich sah Ava weiterhin zu. Ich wusste nicht wie sie es in diesem Zustand aufnahm. Panisch? Oder freute sie sich für mich? Oder blieb sie einfach ruhig? Ich lehnte mich zurück an die weiche Sofalehne.

Ueberrascht sah ich ihn an. "Eine Schwester?", runzelte ich die Storn. Natuerlich, jetzt machte es Sinn. "Oho, lass mich drei mal raten. Ich erinnere dich an deine Schwester. Kein Wunder das du mich immer SO anschaust.", sagte ich leicht beleidigt und schob die Kruemel von meinem Broetchen zusammen. Dann schluerfte ich von der Suppe, die ein Segen fuer meinen Magen war. Genueßlich leckte ich mir ueber die Lippen und konzentrierte mich wieder auf ds eigentliche Thema. "Was war das denn fuer eine Erinnerung? Einfach nur ein Bild, oder vielleicht etwas, was sie getan und gesagt hat?", fragte ich neugierig und war schon wieder etwas wacher. Zwar immernoch muede, aber eindeutig besser als vorher.

Ich seufzte. "Nein, eigentlich hast du mich nur vorhin an sie erinnert. Als du so vom Blutverlust her komisch drauf warst... Aber ansonsten bist du völlig anders" Ich musterte sie während meinen Worten und musste schmunzeln. "Und du bist auf deine eigene Art hübsch" Dann dachte ich über die Erinnerung nach. Meine Schwester, wie sie auf ihrem Bett saß und mich frech anlächelte. Meine Schwester, wie sie plötzlich vollkommen erschrocken aufsah. Und dann nichts mehr. Ich versuchte mich weiter zu erinnern, aber es funktionierte nicht. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Ich wusste weder etwas über den Rest meiner Familie, noch wie ich meine Schwester verloren hatte. Ich musste sie ja irgendwie verloren haben.

Ich legte den Kopf schief und hoerte ihm aufmerksam zu. Als er dann sein Gesicht in seine Haende grub, legte ich meine Hand auf seinen Ruecken und streichelte ihn sanft, waehrend ich nachdachte. Dann legte ich meine Arm ihn und knuddelte ihn leicht. "Du wirst dich sicher noch erinnern koennen. Ansonsten reisen wir halt um die halbe Welt um es herauszufinden.", meinte ich aufheiternd und lehnte meinen Kopf an seinen. "Vielleicht leben sie ja noch..." Vielleicht waren sie auch Virals, wie Xavier. Frustriert schloss ich meine Augen. 

Ich seufzte und nahm die Hände weg. Avas Nähe war wieder beruhigend. Vielleicht war das auch ein Grund, wieso ich sie mochte. "Es ist wahrscheinlicher dass sie infiziert oder tot sind" Ich sagte es ungern aber wahr war es schließlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie noch lebten. Ich spürte, wie sich mein Herz zusammenzog. Ich hatte eine Schwester. Dabei war das Blackout wohl doch ein Segen gewesen. Ich schmiegte mich ohne nachzudenken an Ava und schloss die Augen. Mein Hut verschob sich leicht, doch das war nicht schlimm.